Wie Herdmutter das Feuer gebar

von Oliver D. Bernuetz

Diese Geschichte ereignete sich während der Großen Finsternis, als alles was existierte entweder tot war oder verstarb. Unser Volk war umringt von unseren Feinden der Finsternis und der Andersheit. Der Sonnen-Häuptling war der Anführer des Feuer-Herds. Doch er war erschlagen worden und samt seiner Kinder an einen unbekannten Ort geflohen. Obwohl der einst so strahlende Yelmalio verblieben war, hatte er mit dem Tod des Sonnen-Häuptlings doch viel seines früheren Glanzes verloren. So gut er es noch vermochte, hielt er die Kräfte der Finsternis und der Andersheit zurück. Gleichzeitig konnte Findelkind kein Wild mehr finden, während Votank versuchte unser Volk durch gerechte Taten zusammen zu halten. Währenddessen durchstreifte Herdmutter unermüdlich das Land, um unser Volk zu ernähren, doch sie konnte nichts Essbares finden. Ohne Wildtiere und Nahrung war unser Volk nackt, es fror und war am Verhungern. Votank befürchtete, dass unser Volk bald sterben würde, wenn nicht jemand bald Wärme und Nahrung fand. Er bat Findelkind darum noch ein letztes Mal auf die Jagd zu gehen und er bat Herdmutter darum nach einem Feuer zu suchen. Findelkind zog mit den wenigen Waffen los, die ihm verblieben waren. Herdmutter zog mit leeren Händen los, da sie nichts mehr besaß.

Herdmutter durchstreifte das Land in alle Richtungen, doch sie konnte nirgends mehr Feuer finden. Sie musste sich auf ihrer Suche ständig vor den Kreaturen der Finster und der Andersheit verstecken. Doch wenn sie auf Leute traf, die nicht nach Feinden aussahen, fragte sie jedes Mal, ob sie irgendwo Feuer gesehen hätten. Doch alle Befragten verneinten. Schließlich fand sie den kläglichen Überrest eines Geistes, der ihr sagte, der Sonnen-Häuptling sei mit seinem Herd in die Unterwelt hinab gestiegen. Herdmutter dankte dem Geist und machte sich auf die Suche nach einem Pfad in die Unterwelt. Sie musste vielen Feinden aus dem Weg gehen, bis sie schließlich einen engen Spalt im Boden fand, der steil hinab führte.

Sie stieg den schier endlosen Spalt hinunter, bis sie die Unterwelt erreichte. Dort suchte sie nun nach dem Sonnen-Häuptling und den Leuten seines Herds. Sie brauchte all ihren Verstand, um den Dämonen der Unterwelt auszuweichen. Als sie fast ihre Hoffnung aufgab, sah sie doch noch einen schwachen Schein in der Ferne leuchten, und sie wusste, dass dies der Sonnen-Häuptling sein musste. Sie durchquerte ein wüstes Land bis sie schließlich den gesamten Sonnen-Herd fand, der dicht gedrängt um seinen Häuptling versammelt war. Als Herdmutter die Sonnen-Leute anblickte wurde sie gewahr, dass alle nur noch blasse Schatten ihres einstigen Glanzes waren. Herdmutter hätte auf der Stelle angefangen zu weinen, wenn sie nicht ihre Tränen für ihr Volk gebraucht hätte. Einer der Sonnenkrieger bemerkte sie forderte sie heraus. Herdmutter erzählte ihm von ihrer Queste, woraufhin der Krieger nur bitter lachte. „Wir haben selbst kein Feuer mehr, Mutter. Wir sind das was Du vor Dir siehst: nur noch blasse Spiegelbilder einer glänzenden Vergangenheit. Aber es ist Dir gestattet zu unserem Häuptling vorzutreten, wenn Du magst.“

Herdmutter trat vor zum Sonnen-Häuptling und hätte beinahe erneut geweint, als sie sah wie blass und leblos er war. Er lag dort reglos und sein Leuchten war fast erloschen. Bei dem Anblick schwand Herdmutter alle Hoffnung, ihr Volk doch noch retten zu können. Doch dann bemerkte sie, dass er zu ihr sprach. Sie beugte sich nach vorne, um sein Flüstern besser zu verstehen. Er sprach: „Auch wenn mein Feuer erloschen und mein Licht schwach ist, so könnte mein Samen doch noch eine Flamme entzünden. Falls Du meinen Samen beleben kannst, so kannst Du Dir nehmen, was Du suchst.“ Herdmutter verspürte wieder Hoffnung und willigte ein. Drei Tage und drei Nächte strengte sie sich an, den Samen des Sonnen-Häuptlings zu beleben, bis es ihr schlussendlich gelang. Obwohl der

Samen klein und mickrig war, verbrannte er ihr Inneres und sie erstarrte vor Schmerz. Doch sie dachte an die Rettung ihres Volkes, richtete sich auf und verabschiedete sich vom Sonnen-Herd.

Langsam durchquerte sie wieder die Wüste und kletterte durch den Schlund in die Oberwelt. Der Funke in ihrem Innern lockte Feinde an und sich musste sich immer wieder verstecken. Doch der Funke wuchs und wuchs und sie wurde größer und größer. In der Oberwelt angekommen, kehrte sie so schnell sie konnte zu unserem Volk zurück. Als sie es endlich erreichte, musste sie schließlich weinen, denn alle ihre Kinder bis auf Yelmalio und Votank waren entweder gestorben oder eingefroren. Als sie ihren Herd erreichte, stöhnte die Herdmutter und fiel zu Boden, da nun die Geburt begann. Mit Votank und Yelmalio, als zwei ungewöhnlichen Hebammen, lag sie für sieben Tage und sieben Nächte in den Wehen. Sie wurde nur unterbrochen durch Angriffe von Kreaturen, die durch ihren Funken angelockt wurden. Doch Yelmalio konnte sie alle vertreiben. Schließlich drückte sie ein letztes, kräftiges Mal und gebar damit einen Schwall Feuer, der genau auf dem Bett landete, dass Votank vorbereitet hatte.

Das Feuer wärmte nun ihr Volk und vertrieb die Finsternis und Andersheit. Bald brachte andere Magie den Sonnen-Häuptling zurück ins Leben und an den Himmel. Und auch Findelkind kehrte Heim mit Wildtieren und Nahrung. Aus diesem Grunde sagen wir, dass das Feuer Herdmutters letztes Kind ist – und wir ehren es genauso wie wir sie.


Hinweise